Oder: Warum es Gypsy Rose Blanchard besser machen will als ihre Mutter
Im Gespräch mit Gypsy Rose Blanchard, die im Mittelpunkt der Doku-Serie „Der Fall Gypsy Rose Blanchard“ steht (Staffel 2 immer sonntags um 20:15 Uhr auf Crime + Investigation und jederzeit auf Abruf über Crime + Investigation Play)
Als Video: https://youtu.be/LiaOtaLzNjA
Der Fall sorgte weltweit für Schlagzeilen: Gypsy Rose Blanchard wurde von ihrer am Münchhausen-Stellvertretersyndrom leidenden Mutter über Jahre isoliert und gequält. Clauddine „Dee Dee“ Blanchard gab sich als liebevolle Mutter, täuschte in Wirklichkeit jedoch schwere Krankheiten ihrer Tochter vor. Dee Dee Blanchard setzte Gypsy unter Medikamente, rasierte ihr die Haare ab, um sie krank aussehen zu lassen, und zwang sie in einen Rollstuhl. Der Missbrauch endete im Jahr 2015, als Gypsy, damals 23 Jahre alt, die Mutter ermorden ließ. Die junge Frau saß deshalb seit 2016 in Haft und kam Ende 2023 auf Bewährung frei.
Ihre tragische Geschichte steht im Mittelpunkt der Doku-Serie „Der Fall Gypsy Rose Blanchard“, die Anfang dieses Jahres mit großem Erfolg startete und nun mit der zweiten Staffel fortgesetzt wird (immer sonntags um 20:15 Uhr auf Crime + Investigation und jederzeit auf Abruf über Crime + Investigation Play). Diese befasst sich mit Gypsys Leben in Freiheit: von den freudigen Momenten, in denen sie erstmals Entscheidungen treffen kann, bis zu den Herausforderungen, die das Leben mit sich bringen, während sie sich ihrer Vergangenheit stellt. So muss Gypsy mit sich selbst und ihrer Prominenz zurechtkommen, während sie versucht, sich in einer „normalen“ Welt zu orientieren – als Ehefrau, Schwester, Tochter und vor allem als Frau in Freiheit.
Gypsy, lass‘ uns über dein neues Leben sprechen. Kann man sagen, dass du dich nach der Haftentlassung wie wiedergeboren fühlst?
Ja, das trifft es sehr gut. Ich mache manche Erfahrungen jetzt tatsächlich zum ersten Mal. Vielleicht spät, aber besser jetzt als nie. Autofahren und Kochen zum Beispiel. Die meisten Personen lernen all diese unterschiedlichen Dinge, wenn Sie Teenager sind, ich nun erst als Erwachsene, also ein bisschen später im Leben.
Kann man sagen, dass du jetzt ein normales Leben führst? Dabei ist es natürlich eine Definitionssache, was „normal“ überhaupt bedeutet.
Da sind Aspekte in meinem Leben, die man sicher nicht einfach als „normal“ bezeichnen kann. Ich stehe, obwohl ich auf Bewährung aus der Haft entlassen wurde, in gewisser Hinsicht immer noch unter Beobachtung. Aber wenn man diese Einschränkungen außer Acht lässt, ist mein Leben ziemlich normal.
Ich habe gehört, dass du schwanger bist…
Sich mit der Mutterschaft zu beschäftigen, ist ein neues Kapitel für mich. Das ist sehr aufregend, und mein jetziger Partner und ich schauen, was die Zukunft uns zu dritt bringen wird.
Wirst du versuchen, eine besonders gute Mutter zu sein, da du in der Vergangenheit leider keine guten Erfahrungen als Kind deiner Mutter gemacht hast?
Als ich feststellte, dass ich schwanger bin, kam das wirklich total unerwartet für mich. Erst schoss mir durch den Kopf: Dafür bin ich noch nicht bereit. Ich bin doch gerade erst aus der Haft entlassen worden. Ich muss mich erst in meinem eigenen, neuen Leben zurechtfinden. Doch nach einer kurzen Zeit dachte ich: Okay, ich bin vielleicht noch nicht bereit dafür, ein Baby zu haben, aber ich gebe mein Bestes. Ich habe wirklich nicht die richtige mütterliche Fürsorge genossen, deswegen bin ich sehr viel mehr motiviert, es anders, ja, viel besser zu machen als meine Mama. Und wenn ich mal nicht weiß, wie ich etwas machen soll, habe ich tolle Menschen um mich herum. Das ist meine Großmutter, da ist meine Stiefmutter und natürlich mein Vater. Die können mir helfen, wenn ich Fragen habe, wie es ist, sich um ein Kind zu kümmern.
Meinst du, dass du mit der Doku-Serie anderen Menschen, die sich auch in einer schwierigen Situation befinden, Rat oder gar Hilfe geben kannst?
Ich hoffe, dass, wenn ich meine Lebensgeschichte erzähle, die Menschen, die ebenfalls mental oder emotional traumatisiert sind, daraus etwas lernen können, wenn sie sehen, durch wie viele Dinge ich hindurchgehen musste, um jetzt hier angelangt zu sein. Auch, wenn ich traumatisiert bin, ließ ich es letztendlich nicht zu, mich völlig von meiner Mama runterziehen zu lassen. Eine bessere Zukunft für mich wollte sie nicht, ich aber. Leute, die diese Serie ansehen, können aus dieser Story lernen – nicht das zu tun, was ich tat, aber auch nicht aufzugeben, was ich ebenfalls niemals machte.
Welchen Platz hat deine Mutter heute in deinem Leben?
Ich gehe einmal im Monat zur Therapie, und wir sprechen dabei über die Vergangenheit und Gegenwart. Es ist eine Reise, bei der ich durch die verschiedenen Emotionen gehe. Ich fühle mich manchmal noch so verletzt, und der Schmerz ist so groß, dass ich denke, er wird für immer anhalten. Dass sich das ändert, daran arbeite ich intensiv in der Therapie. Und wenn der Schmerz dann wieder da ist, habe ich gelernt, was ich für Hilfsmittel habe, wie ich mit ihm umgehen kann. Es ist eine Reise in mich selbst hinein, bei der ich außerdem lerne, meiner Mama zu verzeihen, für das, was sie mir angetan hat.
Bald wirst du dich viele Jahre um dein eigenes Kind kümmern müssen. Doch was wirst du zusätzlich machen?
Ich bin nicht so sehr eine „Karriere-Person“ und habe auch keinen „Nine to five“-Job vor meinem geistigen Auge. Aber öffentlich über meine Geschichte zu sprechen und sie mit anderen zu teilen, damit wir daraus gemeinsam lernen können, schwebt mir schon vor.
Woher nimmst du die Stärke, dein derzeitiges Leben zu meistern?
Ich habe einen neuen Partner, der mit meiner Familie, also meinem Dad, meiner Stiefmutter, meinem Bruder und meiner Schwester, der Hauptgrund dafür ist, dass ich immer weitermache und positiv bleibe. Und bald wird diese Familie ja noch etwas größer.
Noch einmal zur Serie. Ist diese Art von Auseinandersetzung mit deiner Lebensgeschichte neben deiner regulären Therapie noch eine weitere für dich?
Es ist ein bisschen zwiespältig, das sage ich ganz ehrlich. Manchmal ist es mental erschöpfend, so viel über einen selbst mitzuteilen. Eingefangen von den Kameras wird das, was ich preisgebe, in der ganzen Welt ausgestrahlt. Doch es ist für mich auch ein inneres Wachsen, und der Lohn ist die Akzeptanz der anderen. Insofern ist die Doku-Serie auch eine Form der Therapie für mich.
Du sagtest vorhin, dein jetziges Leben sei mit Einschränkungen inzwischen ziemlich normal. Kannst du an einem „normalen“ Tag die Ereignisse der Vergangenheit ganz ausblenden? Oder wirst du in gewissen Momenten an sie erinnert?
Da ist kein Tag, an dem ich nicht an die Vergangenheit erinnert werde – unglücklicherweise. Doch ich erkenne das inzwischen als „normalen“ Prozess der Gesundung an. Ich versuche, dann nicht durchzudrehen und die Bodenhaftung zu behalten. Es hilft, wenn ich mir sage: Das war die Vergangenheit. Die Gegenwart ist jetzt!
Zu einem „normalen“ Leben gehören auch Hobbys. Du bist beispielsweise eine echte Cineastin. Was sind deine Lieblingsfilme?
„Star Wars“ and „Harry Potter“ finde ich ganz toll! Die Potter-Bücher habe ich zudem als Kind bereits verschlungen. Es war das Erste, was ich gelesen habe. Ich oute mich mal als Nerd: Alles, was mit Science Fiction und Weltraum zu tun hat, interessiert mich brennend. In dieser Hinsicht hebe ich also doch manchmal gern ab!
Interview: Marc Hairapetian
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„Der Fall Gypsy Rose Blanchard“, Staffel 2 (acht einstündige Episoden), immer sonntags um 20:15 Uhr auf Crime + Investigation und jederzeit auf Abruf über Crime + Investigation Play
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